Fernweh
Sie ist endlich da. Angekommen. In ihren Gedanken stellt sie sich das immer wieder vor. Jahrelang träumt sie schon davon zu reisen. In die Weite, die Welt, die Freiheit, in das Sein. Hier ist sie nicht richtig, nicht ganz. Auch wenn sie sich nicht unwohl fühlt, das alles, dieses Leben – das alles ist nicht wirklich das, was sie will. Hier kann sie nicht sein, wie sie sein will. Hier fühlt sie sich unvollkommen. Also träumt sie. Und immer, wenn sie an das Reisen denkt, denkt sie an die Farbe Grün. Aber nicht an grün wie das Gras, sondern an das Grün des Meeres, des Dschungels. Dieses Blaugrün, das nach Ferne duftet. Dann kann sie den Wind im Gesicht spüren. Sie kann fühlen, wie das wäre, und das Fernweh schmerzt in der Seele, ohne dass sie diesen Schmerz lindern könnte. Denn auch das Träumen, so schön wie es ist, vergrössert ihn nur. Sie weiss, sie muss weg, fort, um nach Hause zu finden. Ihr Zuhause, das liegt irgendwo in der Ferne, sie weiss nur nicht wo. Deswegen muss sie suchen, und suchen möchte sie auf der ganzen Welt. Egal wo, nur frei muss sie sein. Frei zu wählen, frei zu entscheiden, wo sie sein will – einfach nur sein, so wie sie ist. Sie vermisst sich selbst. Das ist es auch, weshalb sie einfach keine Geduld mehr hat. Wie lange soll sie denn noch warten? Es gibt immer tausend Gründe, nicht zu gehen. Rücksicht zu nehmen. Auf das Leben hier, auf die Familie, auf die Freunde, und vor allem auf das Geld. Doch lange kann sie das nicht mehr. Lange kann sie dieses Leben nicht mehr leben, eines, in dem das, was alle von ihr erwarten, wichtiger ist als sie selbst. Das Fernweh wird siegen. Sie kann sich nicht wehren. Auch wenn es ihr leid tut, sie muss einmal im Leben egoistisch sein, damit sie sein kann. Sein darf. Denn hier erlauben es ihr die Umstände nicht. Obwohl die Umstände gut wären. Sie ist talentiert, hat Erfolg. Nur sich selbst, das hat sie nicht. Um das zu finden, gibt es nur einen richtigen Weg: den falschen, jedenfalls für alle anderen. Es ist ihr egal. Denn wenn sie träumt, dann hat sie eine Ahnung davon, wie es sein wird. Sie kann das Gefühl erahnen, das in ihr ist, tief in ihr verborgen. Das Gefühl der Freiheit. Sie stellt sich vor, wie es ist, wenn sie den Regenwald sieht. Wenn sie in ihm badet. Wie es ist, wenn sie auf den Bergen der Welt steht, die Weite vor sich, die Frische des Windes in der Nase. Wie es ist, das Meer zu sehen, wie es ist, die Wellen zu spüren und das Salz zu schmecken. Wenn es nichts anderes mehr gibt, als sich frei zu fühlen. Es wird keine Worte dafür geben. Nur Tränen können ausdrücken, was sie fühlt. Tränen, die aus ihr herauskommen, tief aus ihr, und sie befreien, von einer Last, die sie kaum mehr tragen konnte. Zu lange hat sie gewartet, sie weiss es. Es macht sie fast kaputt, das Fernweh. Und doch, solange sie nicht gehen kann, ist es das Einzige, was sie hat. Es bringt sie zum Träumen. Irgendwann, hofft sie, kann sie damit aufhören. Solange muss sie den Schmerz ertragen. Was würde sie denn tun ohne Fernweh? Ohne etwas, das sie antreibt. Sie denkt sich, dann wäre sie wie alle anderen. Die, die mit der Masse schwimmen, im Alltagstrott versinken und nicht mehr herauskommen aus der Gesellschaft. Die einfach weitermachen. Sie weiss nicht, ob diese Leute glücklich sind. Aber sie weiss, dass die Freiheit sie glücklich macht. Es muss so sein. Sonst täte es nicht so weh. Sonst hätte sie es nicht, das Fernweh. Deshalb ist sie froh. Sie weiss: Der Schmerz ist die Ahnung vom Glück, das sie spürt, wenn sie endlich frei ist. Endlich frei sein kann. Endlich angekommen ist.
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