Jonas

Jonas ist einer von vielen – und genau deshalb fühlt er sich allein.

Dies widerspricht sich nur auf den ersten Blick, denn sie alle haben eines gemeinsam: Sie sind anders. Darin sind sie alle gleich und trotzdem gehören sie nirgends dazu. Diesen Widerspruch spürt Jonas jeden Tag. Innerlich und äusserlich. Denn obwohl er sich so anders fühlt, wäre er eigentlich gerne so wie alle anderen. Doch je mehr er sich anstrengt, desto weniger funktioniert es.

Jonas ist einfach ein Jugendlicher.

Er lebt in der Schweiz. Genauer: Irgendwo auf dem Land, aber immer noch in Stadtnähe.

Das macht die ganze Sache nicht unbedingt einfacher.

Jonas. Das ist der Titel meiner geplanten Kurzgeschichtensammlung. Im Moment existieren zwar schon ein paar Texte, jedoch noch lange nicht alle. Wenn ihr die Texte lest, dann werdet ihr merken: Jonas ist nicht immer der gleiche Jugendliche, aber er ist immer ein Jugendlicher, auf den die obere Beschreibung passt.

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Gefangen

„Ich will hier raus!“, war das erste, was Jonas durch den Kopf ging, als er die Augen aufmachte. Panisch sah er sich um. Es war zwar dunkel um ihn herum, doch er konnte gerade noch erkennen, dass er von vier Wänden umgeben war. Es erschien ihm komisch, dass die Wände zwar keine Fenster hatten, dafür aber bei einer Wand an der oberen Kante durch einen dünnen Spalt ein wenig Licht in den sonst beklemmend niedrigen Raum eindrang. Die Decke war gerade mal so hoch, dass er sich halb aufrichten konnte, also robbte er gebückt auf dem Boden herum und versuchte so herauszufinden, wo er sich eigentlich befand.

„Wo um Himmels Willen bin ich hier gelandet?“, flüsterte Jonas in die staubige Dunkelheit. Mit seinen Händen fing er an, den Raum anzutasten. So, wie es schien, war hier alles aus Holz. Als Jonas das erkannt hatte, konnte er plötzlich auch den leicht modrigen Geruch einordnen, der wohl vom schon recht alten Holzboden stammte. Er wusste zwar nicht genau warum, aber er war sich fast sicher, dass vor ihm bereits viele andere in diesem Raum gewesen und genau wie er durch die Hölle gegangen waren.

In ihm herrschte jetzt eine Leere und Ohnmacht, wie er sie zuvor noch nie verspürt hatte. Am liebsten hätte er geheult, aber das würde ihn auch nicht weiterbringen. „Was habe ich denn getan? Warum bin ich hier drin? Wie komme ich hier wieder raus?“, fragte er sich immer und immer wieder. In seinem Kopf herrschte nun das absolute Chaos. Fragen über Fragen, doch auf keine einzige konnte er sich eine Antwort zusammenreimen. Er fühlte sich so hilflos!

Jonas wurde langsam wütend. Vor lauter Wut und Frust fing er nun an zu schreien und mit den Fäusten gegen den Boden zu hämmern. Plötzlich war da eine Stimme: „Hallo? Wer ist da?“ Jonas erschrak. „Hey!“, rief er, „Hey, ist da jemand? Kannst du mir helfen?“ Doch die Stimme sagte nur ganz traurig: „Nein, ich bin hier genauso gefangen wie du. Aber ich bin froh, wenigstens bin ich jetzt nicht mehr ganz alleine. Ich befinde mich direkt unter dir. Wenn du dich auf den Boden legst, dann musst du nicht mehr so laut schreien. Das kostet nur Energie.“ Langsam beruhige sich Jonas. Er legte sich ganz flach auf den Boden.

„Hallo! Ich bin Jonas. Und du?“ „Hallo Jonas, ich heisse Nina“ „Nina, du meine Güte, bin ich froh, dass jemand da ist! Wie lange bist du denn schon hier?“ Nina überlegte und antwortete dann unsicher: „Ach, ich weiss nicht. Schon lange. Ich habe mittlerweile gar kein Zeitgefühl mehr.“ In Ninas Stimme schwang leise Verzweiflung mit. Jonas hatte deshalb seine Hoffnung schon fast wieder aufgegeben, trotzdem wollte er einen Versuch wagen: „Hast du denn eine Ahnung, wo wir hier sind und wie wir hier wieder rauskommen?“

Auch diesmal brauchte Nina lange, bis sie antwortete: „Das einzige, was ich sicher weiss, ist, dass wir keine Hilfe erwarten können. Wenn du’s irgendwie schaffen willst, dann aus eigener Kraft. Und das ist echt schwer. Ich hab’s am Anfang wirklich versucht, aber ohne Erfolg. Langsam fehlt mir auch der Antrieb dazu. Aber vielleicht schaffe ich es ja jetzt, wo du auch da bist!“ Jonas zweifelte zwar daran, dass er ihr helfen konnte, doch das wollte er ihr nicht sagen.

„Hmmm, okay. Und wie genau kann ich mich denn selbst befreien?“, wollte er jetzt wissen. Doch nie hätte er mit der Antwort gerechnet, die Nina ihm nun gab: „Naja, also, du musst versuchen den Spalt zu vergrössern, dort, wo das Licht reinkommt. Wenn du genug Kraft hast, dann kannst du irgendwann rausklettern. Aber du kannst dir ja vorstellen, wie schwer das ist. Es ist beinahe unmöglich, eine Schublade von innen zu öffnen. Vor allem, wenn du nicht mal weisst, warum du hier eigentlich reingesteckt wurdest.“

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Durch alle Maschen gefallen

Wieder einmal sprach Jonas‘ Vater mit einem neuen Betreuer. Und einmal mehr hörte er die gleichen Erklärungen, die ihm aber nicht weiterhalfen. Es sei niemandes Schuld zum Beispiel, was wollten ihm alle damit sagen? Natürlich hatte jemand Schuld! Er hatte Schuld, sein Sohn hatte Schuld, dazu die Schule, die falschen Freunde, die Nachbarn, die sich das Maul zerrissen… Sicher verstand er auch, dass ihn das nicht weiterbrachte, aber es musste doch eine Erklärung dafür geben, warum es bei Jonas so weit gekommen war und bei allen anderen nicht, die doch zumindest am Anfang genau die gleichen Dinge gemacht hatten.

Ja, er hörte den Betreuer laut und deutlich, als er sagte: „Jonas ist ein spezieller Fall, da sind wir machtlos. Jonas ist einfach durch alle Maschen gefallen, und zwar in einem so schnellen Tempo, dass keine Massnahme greifen konnte.“ Doch die Bedeutung dessen, was er eben gehört hatte, konnte er nicht erfassen. Sein Sohn war doch ein Mensch! Und Jonas war in Folge dessen genau wie jeder andere Mensch nicht so einfach gestrickt, dass man ihn mit einer Laufmasche in einem einfachen Strickmuster vergleichen konnte.

Oder hatte der Betreuer damit gemeint, dass das Strickmuster zu kompliziert geworden war? War das System bereits so verworren, dass die Löcher dazwischen gar nicht mehr zu erkennen waren? Aber auch das durfte einfach nicht sein! Warum wurde denn nichts dagegen gemacht? Es war doch nicht möglich, dass sich immer wieder Jugendliche wie sein Sohn in freiem Fall befanden und die einzige Erklärung war, dass es im System Löcher gab, durch die Jonas jedes Mal wieder hindurch- und noch tiefer fiel.

Es fehlte nur noch, dass man dem Jungen vorwarf, dass er die Löcher nicht selbst flickte, weil er nicht stricken konnte. Ja, wäre es denn seine Aufgabe gewesen als Vater, seinem Sohn den Umgang mit den Stricknadeln beizubringen, weil die Schule den Stundenplan kürzen musste? Hätte er ihm das etwa zeigen sollen, er, der selbst nie stricken gelernt hatte, weil seine Frau zu dieser Zeit depressiv war und selbst genug Probleme mit sich hatte? Wie hätte er das denn machen sollen?

Und obwohl Jonas‘ Vater selbst keine Ahnung vom Stricken hatte und nicht wissen konnte, dass es genau wie in der Politik linke und rechte Maschen gab, wusste er trotzdem sehr genau: Weder von der einen noch von der anderen politischen Seite konnte er für seinen Sohn Unterstützung erwarten. Denn die beiden Seiten benutzten Fälle wie Jonas lieber als Argumente, um sich gegenseitig bekämpfen zu können. Diese Löcher konnte er sogar durch das komplizierteste Muster hindurch erkennen. Oder war das System genau deshalb doch viel einfacher gestrickt, als er dachte?

Plötzlich begann Jonas‘ Vater zu ahnen, warum sein Sohn durch die Maschen fiel. Es handelte sich weder um Laufmaschen im zu einfachen System noch waren es Löcher im zu grossen Chaos. Nein, das war es nicht, es war viel logischer: Wenn sich nämlich die obersten Akteure mit Nadel und Faden in der Hand nicht einig werden konnten, nach welchem Muster sie stricken wollten, dann konnten die Übergänge zwischen ihnen natürlich nicht sauber gestrickt werden. So entstanden über die Jahre und Jahre hinweg viel zu viele und zu grosse Übergangsmaschen in einem System, das mit der Zeit immer unübersichtlicher wurde, so dass am Ende keiner mehr sagen konnte, bei welcher Masche alles angefangen und aufgehört hatte.

Einig waren sich aber stets alle darin, dass es sich um ganz tragische Fälle handelte, wenn ein Jugendlicher wie Jonas mit einem doch trotzdem über grosse Teile hindurch gleichmässig gestrickten System nicht aufgefangen werden konnte. Und daran konnte nun wirklich niemandem die Schuld gegeben werden – denn für die Übergangsmaschen, für die war und ist schliesslich keiner zuständig.

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Auf dem Heimweg

Jonas war auf dem Heimweg. Er lief langsam, denn in ihm herrschten gemischte Gefühle. So richtig einordnen konnte er sie nicht. Irgendwie fühlte er sich beklommen, doch auf der anderen Seite auch immer noch frei und stark. Am liebsten würde er die ganze Welt umarmen und trotzdem hinderte ihn etwas daran. Tief in seinem Inneren war etwas anders, und er wusste es. Er wusste, dass der Preis eigentlich zu hoch war: Ausreden, Lügen, dazu die ständige Angst, erwischt zu werden. Was war es also, das ihn immer wieder zurücktrieb? Warum konnte er es nicht lassen? Warum konnte er die Welt, so wie sie war, einfach nicht aushalten?

Er hatte es sich so fest vorgenommen, und lange war er auch standhaft geblieben. Doch dann ein Moment der Schwäche, und plötzlich hatte er das Gefühl, dass es doch nicht so schlimm war. Nein, er hatte es ja jetzt im Griff. Was konnte schon passieren? Nur ein Joint, danach würde er wieder aufhören. Er hatte schliesslich auch einmal einen schlechten Tag, genauso wie alle anderen. Was war schon dabei, wenn es ja nur einmal war? Um kurz alle Probleme zu vergessen, nur für einen Moment.

Und wirklich, schon nach den ersten Zügen fühlte sich alles leichter an, was vorher noch so schwer wog. Was wollten ihm die Erwachsenen auch alle vorschreiben, wie er sein Leben zu leben hatte. Und dann diese beschissene Schule! Was wussten die schon von seinem Leben? Wussten die, wie es war, jeden Tag mit diesem Gefühl durch die Welt zu gehen? Mit dem Gefühl, so anders zu sein als alle anderen und nirgends richtig dazuzugehören? Wer wusste schon, wie es in ihm aussah? Wie es war, ständig eine Maske aufzusetzen und allen etwas vorzuspielen,  weil  die  Gesellschaft  einen  wie  ihn  nicht   akzeptierte?

Nein, das wussten sie nicht! Das konnten sie auch nicht, weil sie ja Teil dieses ganzen Systems waren. Die sollten ihm doch nicht erzählen, dass sie sich um ihn sorgten, nur das Beste für ihn wollten. Es war so eine verlogene Welt! Um das zu wissen, musste man nicht in die Schule gehen.

Heute hatte er sich endlich wieder einmal verstanden gefühlt. Endlich hatte er wieder Leute getroffen, denen es genauso ging wie ihm. Diese Leute verstanden, was er meinte, wenn er das Gefühl hatte, dass es die ganze Welt auf ihn abgesehen hatte. Ja, sie wussten genauso wie er, dass man auf alles pfeifen musste, um hier zu überleben. Und das tat er jetzt auch. Er war in Rage. Eigentlich wollte er schneller laufen, nur gelang es ihm nicht. Im Gegenteil, er lief nun immer langsamer. Er wollte nicht nach Hause, dort würden sie ihm nur wieder all die unangenehmen Fragen stellen, wissen wollen, wo er gewesen war und was er gemacht hatte.

Auch wenn sie ihm seine Lügen vielleicht glaubten, er hatte einfach keine Lust mehr zu lügen. Keine Lust mehr, alle anderen – und vor allem sich selbst – zu belügen. Denn egal, was er tat, es war sowieso alles falsch. Er war ein Versager, auch jetzt hatte er wieder versagt. Wie blöd er doch gewesen war! Wie konnte er nur glauben, dass einer wie er sein Leben in den Griff bekommen würde? Hier in diesem Kaff war er abgeschrieben. An ihn glaubte doch niemand mehr, am wenigsten er selbst. Nein, er wollte nicht mehr nach Hause.

Er blieb plötzlich stehen. Die anderen waren sicher noch dort. Und da schon alles egal war, könnte er auch wieder zurückgehen. Es spielte keine Rolle mehr. Wenn seine Eltern herausfänden, dass er wieder gekifft hatte, dann würden sie so oder so stinkwütend. Seine Chance hatte er jetzt verspielt. Nun war alles zu spät.

Seine Zweifel waren fast verflogen. Er fühlte sich nicht hundertprozentig wohl dabei, sicher, aber was hatte er denn für eine Wahl? Eben. Oder gab es vielleicht doch noch die Möglichkeit, dass er einfach so weitermachen konnte, wie wenn heute nichts passiert wäre? Könnte er jetzt einfach nach Hause gehen und mit seinen Eltern zu Abend essen wie in den letzten Wochen auch? Auch wenn er sich das wünschte, so hatte er doch zu grosse Angst.

Angst davor, was passieren würde, wenn es nicht klappte. Angst, alle zu enttäuschen und damit auch sich selbst. Er merkte, wie die Wirkung des Joints nachliess. Sein Selbstvertrauen war wie weggeblasen. Wie lange stand er jetzt schon so da, weil er weder vor noch zurück wusste? Er hatte keine Ahnung. Er stellte sich seine Familie vor, wie jetzt alle am Tisch sassen und auf die Uhr schauten. Er sah seine Mutter, die immer noch hoffte, dass er gleich zur Tür hereinkam.

Dann fasste er einen Entschluss. Ja, Jonas war auf dem Heimweg gewesen – doch dann drehte er um.

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Eine gebrochene Persönlichkeit

Die Aufregung war riesig. Die gesamte Schule, ja, sogar die ganze Stadt, und ja, so war man sich sicher, die ganze Welt war in Aufruhr. So etwas hatte man hier noch nie erlebt: Eben sass Jonas noch ganz normal im Unterricht, eigentlich genau wie immer, so erzählten die Klassenkameraden. Und dann, ganz plötzlich, fiel er auseinander. Das heisst, eigentlich fiel er nicht einfach auseinander, nein, es war eher so, dass er vom Stuhl fiel und erst beim Aufprall auf den Boden in viele kleine Stücke zerbrach, so wie eine Porzellanfigur. Kein menschlicher Laut war dabei zu hören, lediglich ein kurzes Klirren. Nicht einmal Blut habe gespritzt, berichteten die Zeugen des Vorfalles. Niemand an der Schule konnte sich das erklären.

An der Pressekonferenz suchte der Schuldirektor nach klugen Worten, doch er fand keine. Auch der Mathelehrer nicht, der zuvor noch versucht hatte, Jonas nach allen Regeln der Logik wieder zusammenzusetzen und zu reparieren. Es gelang ihm nicht. Ebenso war der herbeigerufene Arzt mit seinem Latein am Ende, als er feststellen musste, dass von Jonas nur noch die äussere Hülle vorhanden war und alle Innereien samt Herz fehlten. Seinen verzweifelten Versuch, die einzelnen Stücke wieder zusammenzunähen, musste er bald wieder aufgeben, da er es nicht schaffte, die Nadel durch die harten Hautscherben zu stechen. Sie wussten einfach keine Formel, wie sie vorzugehen hatten, denn so einen Fall fanden sie in keinem Lehrbuch.

Zwar wurden für alle anderen Schüler Psychologen aufgeboten, genauso wie es für Notfälle vorgesehen war, und auch die herbeigeeilten Eltern und die schockierten Lehrer wurden versorgt. Der Schule konnte hier absolut kein Vorwurf gemacht werden, denn alles wurde ganz korrekt gehandhabt. Doch für Jonas wusste niemand Hilfe. Und so kam es, dass Jonas gebrochen blieb. Und mit ihm das ganze Schulsystem mit seinen Vertretern, die ohne Erklärung zurückzublieben.

Dabei gab es eine einfache Erklärung, die ganz feine Geister an der Schule vielleicht erahnten, sich jedoch nicht auszusprechen getrauten: Durch den Versuch, sich anzupassen und konform mit den Erwartungen zu gehen, die an Jonas gestellt wurden, wurde seine äussere Schale immer härter, während sein Inneres immer leerer wurde. Und so kam es, dass von Jonas am Ende nur noch eine porzellanartige Hülle übrig blieb, die schon beim ersten Widerstand von aussen einfach zerbrach.

Weil aber diese Erklärung für alle Schulvertreter, ja, sogar für alle Politiker, und ja, sogar die ganze Gesellschaft noch viel schwieriger zu ertragen war als gar keine Erklärung zu haben, beliess man es dabei, von einem unerklärlichen Einzelfall zu sprechen – in der Hoffnung, dass er bald in Vergessenheit geraten würde.

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Bis er fast platzte

Jonas sass da. Fühlte sich unwohl. Starrte vor sich hin. Um ihn herum wurde diskutiert und ihm war es peinlich. Jonas spürte, wie er unruhig wurde, und er wusste nicht, was schwerer auszuhalten war: Diese sinnlose Diskussion oder die Wut, die in ihm aufstieg und nicht aus ihm heraus konnte. Denn Jonas wusste genau, wenn er etwas sagen würde, wenn er seine Meinung kundtun würde, dann würde das alles nur noch schlimmer machen. Das würde die Diskussion nur noch mehr anheizen. Er hielt die Luft an.

Seinen Emotionen Luft zu machen, das war einfach keine Option. Wenn Jonas etwas um alles in der Welt vermeiden wollte, dann, dass noch länger als nötig diskutiert wurde. Warum konnten es die anderen ihm nicht einfach gleich tun? Warum mussten sie immer und immer wieder ein Argument an das andere reihen? Konnten nicht einfach alle mal ruhig sein? Spürten sie denn nicht, wie lächerlich das alles war? Wie lächerlich sie sich selber machten? Mit ihren verletzten Egos, die sie alle aufplusterten, bis sie fast platzten.

Wenn nicht gleich alle aufhören würden, dann wusste Jonas, dass er es nicht mehr aushalten würde. Jonas schloss die Augen und startete seinen verzweifelten Versuch, sich in Luft aufzulösen. Sein Kopf fühlte sich nun an wie ein riesengrosser Ballon, und alle um ihn herum reichten ihn weiter, pusteten immer mehr Luft hinein, ohne Rücksicht darauf zu nehmen, dass bald keine Luft mehr reinpasste, weil sonst sein Kopf statt ihrer Egos platzen würde.

Da öffnete Jonas die Augen. Stand auf und ging hinaus, ohne ein Wort zu sagen und ohne sich umzublicken.

Er lief auf direktem Weg nach Hause. Schloss die Tür auf und warf seine Jacke auf den Boden. In der Küche angekommen öffnete Jonas die oberste Schulblade der Kommode und nahm einen der roten Ballone heraus, die seit der letzten Party dort lagen. Jonas trat hinaus auf den Balkon und fing an, ihn aufzublasen, erst zaghaft, doch dann immer vehementer, bis Jonas das Gefühl hatte, dass er beim nächsten Luftstoss platzen würde.

Er setzte den Ballon ein letztes Mal an seinen Mund und stellte sich ganz zuvorderst an das Balkongeländer. Ein letztes Mal noch holte Jonas Luft, bevor er den Ballon losliess. Dieser zischte los und flog mit einem furzenden Geräusch in lustigen Bewegungen durch die Luft. Jonas stand da, sah dem Ballon hinterher, pustete ihm noch einmal nach und lachte.

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Aus dem Rhythmus gefallen

Müde und benommen von der durchträumten Nacht sitzt Jonas am Frühstückstisch und fühlt sich total verloren. Irgendwie stecken ihm die Träume noch in den Knochen. Er fühlt sich schwer und es wird eine ganze Weile dauern, bis seine Knochen alle Traumbilder absorbiert haben und bereit sind, sich ihrer eigentlichen Bestimmung zu stellen und Jonas durch den Tag zu tragen. Einige Bilder sind noch da und doch schon weg, sie sind noch nicht ganz in den Knochen angekommen und blitzen wieder auf, aber in eine chronologische Reihenfolge lassen sie sich nicht mehr bringen.

Oder waren sie gar nie chronologisch? Jonas weiss es nicht. Über alles ist ein Schleier gelegt, sowohl über seine Träume wie auch über die Dinge um ihn herum. Er fühlt sich benebelt, hat Mühe sich zurechtzufinden. Alles kommt ihm so unwirklich vor, sogar die Zeit, der Jonas morgens immer hinterherhinkt. Das waren doch nur fünf Minuten, wieso ist schon eine Stunde vergangen? Er ist noch nicht bereit. Wie soll Jonas denn heute nur alles schaffen? Wie den Menschen begegnen, wie mit ihnen sprechen? Wie soll das gehen, wenn er sich so fehl am Platz fühlt?

Auch das weiss Jonas nicht, und auch nicht, wie es dann doch passiert, dass er irgendwann dasteht, bereit, aus der Tür zu treten und in die Schule zu gehen. Auch wenn es manchmal lange dauert, aber an den allermeisten Tagen schafft er es, den Weg vom Traum zurück ins Leben zu finden. Und in seinem Leben gibt es dann nur noch den einen grossen Traum, der Jonas durch den Tag begleitet, bis er abends ins Bett fällt und sich jedes Mal aufs Neue vornimmt, dass ab morgen alles anders wird: Jonas träumt davon, wie es wäre, endlich problemlos in den Rhythmus der Gesellschaft zu passen und von Anfang an den Platz darin zu finden.

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Ihre Tür steht immer offen

Gespannt wartet Anna darauf, dass etwas passiert. Sie wartet schon so lange, dass sie anfängt, in ihrem Haus herumzutigern, weil sie es nicht mehr schafft, einfach nur untätig herumzusitzen. Fieberhaft überlegt sie, warum Jonas nicht einfach zu ihr hereinkommt. Sie hat ihre Tür doch schon so lange für ihn geöffnet.

Und so setzt sie sich auch heute wie jeden Tag ans Fenster, in der Hoffnung, ihn irgendwo zu sehen und zu erkennen, ob er sich nun endlich dazu entschlossen hat, den ersten Schritt durch die Tür zu machen. Erst gestern stand Jonas einfach nur da und hat nichts gemacht. Nichts. Dabei muss er doch sehen, dass die Tür immer offen steht. Er sieht schliesslich auch, dass Anna da am Fenster sitzt und ihm zuwinkt, denkt sie. Jonas muss es ja sehen, denn jedes Mal winkt er grinsend zurück. Und trotzdem kommt er einfach nicht herein.

Jeden Tag auf’s Neue, wenn sie hinaussieht, hat Anna die Hoffnung, dass Jonas wenigstens ein bisschen näher gekommen ist. Doch meistens wird ihre Hoffnung enttäuscht. Es kann sogar sein, dass er gar nicht da ist oder sie ihn nur noch von ganz weit weg erkennen kann. Manchmal steht er zwar nahe bei ihr, hat ihr aber den Rücken zugewandt oder läuft schon wieder weg. Dabei kostet es Anna doch so viel Kraft, die Tür offen zu lassen.

Sie versteht das einfach nicht.

Was Anna nicht weiss: Jonas sieht nicht, dass sie in ihrem Glashaus sitzt und auf ihn wartet. Er sieht nicht, dass ihre Tür für ihn offen steht. Jonas sieht nur, dass sie nicht auf ihn zukommt, obwohl er sich doch immer wieder in ihrer Nähe aufhält. Er weiss sogar, dass Anna ihn sieht, denn sie winkt ihm ja immer wieder zu.

Er versteht das einfach nicht.

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6 Comments on “Jonas”

  1. Pingback: Jonas « Von der Freiheit zu träumen

  2. die gebrochene persönlichkeit berühert mich sehr. und es ist für mein laienhaftes gefühl ganz großartig geschrieben. ich habs schon irgendwo mal gesagt, aber hier nochmal: du nimmst mich mit. klasse!

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