Die Innenarchitektin

Es ist jedes Mal komisch für sie, das erste Mal über eine Schwelle zu gehen. Es ist die Schwelle zu einem neuen Reich, einem kleinen Universum, das sie ergründen muss, untersuchen und bis ins kleinste Detail in sich einsaugen. Damit etwas Neues entstehen kann, sie etwas anderes daraus machen kann, ohne es im Kern zu zerstören. Denn es muss zu ihnen gehören, zu diesen Leuten, die sie eigentlich nicht kennt und doch das Gefühl hat, ihnen vertraut zu sein. Die Einrichtung hat viel mit dem Charakter dieser Menschen zu tun, das darf sie nie vergessen. Das ist das Wichtigste überhaupt, denn sie dürfen sich nie fremd fühlen zu Hause, sonst hat sie ihren Job nicht gut gemacht. Und dass sie ihren Job gut macht, hat sich ausgezahlt, denn nach ein paar Jahren Anlaufzeit gehört sie nun zu denen, die Zimmer, Wohnungen und Häuser der Prominenz einrichten. Unglaublich, wie sich die Türen der unendlichen Möglichkeiten öffnen, wenn es keine Frage des Geldes ist. Der Job ist viel einfacher geworden seitdem, denn nun kann sie auf ihr Gefühl hören. Und ihr Gefühl täuscht sie nie. Dieses erste Mal, wenn sie über die Schwelle geht, das ist entscheidend. Fühlt sie die Wärme in der Einrichtung, den Möbeln, den Accessoires, dann lässt sie sich davon tragen. Spürt sie Kälte, saugt sie diese in sich auf, um sie wieder produzieren zu können. So ist das mit allem, was die Räume ausstrahlen. Genau das ist der Kern, um den es geht. Ein Zimmer, eine Wohnung, ein Haus – sie haben Seelen, die man erfassen muss, damit sie nicht verloren gehen. Nur wenn das gelingt, sind die Kunden auch zufrieden. Die Seele der Räume spiegelt die Seelen der Bewohner. Wer möchte schon Tag für Tag vor Augen haben, was er nicht ist? Nein, sie ist gut in ihrem Beruf, der dem einer Psychologin eigentlich sehr ähnelt. Nur wollen ihre Patienten nicht geheilt, sondern verschönert werden. Ihre Aufgabe ist es, zu bestätigen, nicht zu hinterfragen…

Das ist es, was eine Innenarchitektin macht, stellt sie sich vor, als sie nach einem langen Tag im Bus nach Hause fährt und gerade in einem Wohnmagazin blättert, das sie im Bus gefunden hat. Sie wünscht sich, sie wäre eine. Das muss unglaublich spannend und kreativ sein. Anders als das, was sie macht. Sie hat es satt. Sie stellt sich die Gesichter ihrer Patienten vor, wenn sie morgen den Aushang an ihrer Praxistür lesen: „Wegen Renovation geschlossen“, und lächelt.

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