Durch alle Maschen gefallen
Wieder einmal sprach Jonas‘ Vater mit einem neuen Betreuer. Und einmal mehr hörte er die gleichen Erklärungen, die ihm aber nicht weiterhalfen. Es sei niemandes Schuld zum Beispiel, was wollten ihm alle damit sagen? Natürlich hatte jemand Schuld! Er hatte Schuld, sein Sohn hatte Schuld, dazu die Schule, die falschen Freunde, die Nachbarn, die sich das Maul zerrissen… Sicher verstand er auch, dass ihn das nicht weiterbrachte, aber es musste doch eine Erklärung dafür geben, warum es bei Jonas so weit gekommen war und bei allen anderen nicht, die doch zumindest am Anfang genau die gleichen Dinge gemacht hatten.
Und ja, er hörte den Betreuer laut und deutlich, als er sagte: „Jonas ist ein spezieller Fall, da sind wir machtlos. Jonas ist einfach durch alle Maschen gefallen, und zwar in einem so schnellen Tempo, dass keine Massnahme greifen konnte.“ Doch die Bedeutung dessen, was er eben gehört hatte, konnte er nicht erfassen. Sein Sohn war doch ein Mensch! Und Jonas war in der Folge davon genau wie jeder andere Mensch nicht so einfach gestrickt, dass man ihn mit einer Laufmasche in einem einfachen Strickmuster vergleichen konnte.
Oder hatte der Betreuer damit gemeint, dass das Strickmuster zu kompliziert geworden war? War das System bereits so verworren, dass die Löcher dazwischen gar nicht mehr zu erkennen waren? Doch auch das durfte doch einfach nicht sein! Warum wurde denn nichts dagegen gemacht? Es war doch nicht möglich, dass sich immer wieder Jugendliche wie sein Sohn in freiem Fall befanden und die einzige Erklärung war, dass es im System Löcher gab, durch die Jonas jedes Mal wieder hindurch- und noch tiefer fallen konnte.
Es fehlte nur noch, dass man dem Jungen vorwarf, dass er die Löcher nicht selbst flicken konnte, weil er keine Ahnung vom Stricken hatte. Ja, wäre es denn seine Aufgabe gewesen als Vater, seinem Sohn den Umgang mit den Stricknadeln beizubringen, nur weil die Schule den Stundenplan kürzen musste? Hätte er ihm das etwa zeigen sollen, er, der selbst nie stricken gelernt hatte, nur weil seine Frau zu dieser Zeit depressiv war und selbst genug Probleme mit sich hatte? Wie hätte er das denn machen sollen?
Und obwohl Jonas‘ Vater selbst keine Ahnung vom Stricken hatte und nicht wissen konnte, dass es genau wie in der Politik linke und rechte Maschen gab, wusste er trotzdem sehr genau: Weder von den einen noch von der anderen politischen Seite konnte er für Jonas Unterstützung erwarten. Denn die beiden Seiten benutzten Fälle wie Jonas lieber als Argumente, um sich gegenseitig bekämpfen zu können. Diese Löcher konnte er sogar durch das komplizierteste Muster hindurch erkennen. Oder war das System genau deshalb doch viel einfacher gestrickt, als er dachte?
Und plötzlich begann Jonas‘ Vater zu verstehen, warum sein Sohn durch die Maschen fiel. Es handelte sich weder um Laufmaschen im zu einfachen System, noch waren es Löcher im zu grossen Chaos. Nein, das war es nicht, es war viel logischer: Wenn sich nämlich die obersten Akteure mit Nadel und Faden in der Hand nicht einig werden konnten, nach welchem Muster sie stricken wollten, dann konnten die Übergänge zwischen ihnen natürlich nicht sauber gestrickt werden!
Und so entstanden über die Jahre und Jahre hinweg viel zu viele und zu grosse Übergangsmaschen im System, das mit der Zeit immer und immer unübersichtlicher wurde, so dass am Ende keiner mehr sagen konnte, bei welcher Masche alles angefangen und aufgehört hatte.
Worin sich aber alle stets einig waren, war, dass es sich um ganz tragische Fälle handelte, wenn ein Jugendlicher wie Jonas mit einem doch trotzdem über grosse Teile hindurch gleichmässig gestrickten System nicht aufgefangen werden konnte. Und daran konnte nun wirklich niemand die Schuld gegeben werden – denn für die Übergangsmaschen, für die war und ist schliesslich niemand zuständig!
Der arme Jonas 😦
Hmmm, kommt das so rüber? Ja, er ist schon arm, aber so ganz unschuldig ist Jonas an seiner Situation ja auch nicht… sein Vater würde ihn halt gern beschützen und merkt langsam, dass das gar nicht (mehr) möglich ist… Jonas steht halt dazwischen, an einem Übergang, wo er kein Kind mehr ist aber noch nicht erwachsen – man kann ihm also die Verantwortung nicht wegnehmen, aber ganz lassen auch nicht. Es ist schwierig…
Natürlich ist er irgendwo selbst schuld an seiner Situation, die ja durch sein Verhalten erst zustande kam. „Arm“ meinte ich eher im Sinne dessen, dass er eben durch die ganzen Maschen des Systems gefallen ist. Für das löchrige System kann er ja wiederum nichts.
Ja, damit hast du natürlich absolut recht!
Liebe Jeanette, guten Morgen 😉
eine grandiose Idee, die Lebenssituation mit einem Strickgebilde in Vergleich zu setzen. So „einfach“ kann man auch Logik an den Mann/ Frau bringen. Du hast es bestens verstanden und ich habe bestens verstanden *lächel* Dankeschön fürs lesen lassen.
Wünsche dir einen wunderbaren Start in den Tag
Liebe Grüße
Heike
Liebe Heike,
da sage ich doch einfach „Bitte, sehr gerne!“ und bedanke mich für deine liebe Rückmeldung.
Mit fremden Federn schmücken möchte ich mich aber nicht, denn leider hat diese Geschichte auch einen wahren Kern und ich habe in dem Zusammenhang öfter mal gehört, dass gesagt wurde, dieser Jugendliche sei durch alle Maschen gefallen. Über diese Ausdrucksweise habe ich mir dann mal Gedanken gemacht und versucht, mir über die „Schuld“ daran klar zu werden – natürlich ohne Lösung, aber manchmal ist der Weg das Ziel und Reflexion das einzige, was man tun kann… Wenn diese Gedankengänge dank der Maschensymbolik gut verständlich wurden, freut mich das sehr! Es ist ja nicht immer so einfach, Gedanken verständlich zu formulieren 😉
Dann schicke ich dir für heute schon zum 3. Mal ganz liebe Grüsse 🙂 Jeanette
Liebe Jeanette,
das mit dem wahren Kern habe ich auch vermutet und die Ausdrucksweise „durch die Maschen zu fallen“ ist mir ebenso geläufig.
Wer nun letztendlich Schuld an der ganzen Misere ist, kann man im Nachhinein oftmals gar nicht mehr ganz klären. Lösungen können nur in der Momentaufnahme im Jetzt gefunden werden. Man ahnt, wo die Ursache gelegen hat und setzt dann die, oftmals ganz kleinen Schritte nach vorne, um das Beste aus der Situation zu machen. Wie du schon schriebst, ist der Weg das Ziel.
Solche, manchmal auch schwierige Etappen im Leben prägen den Menschen und ein wenig Gutes kann auch in jeder missglückten Lebenssituation sein. Fehler und auch manch schuldhaftes Verhalten sind dazu da, um gemacht zu werden, sofern es keine bleibenden Schäden beinhaltet. Nur so kann man daraus lernen und vieles besser machen. Man sollte nur tunlichst darauf achten, den Fehler, den man jeden Tag machen darf, nicht am zweiten Tage wieder zu begehen. Als Erfahrungswert in die passende Schublade ablegen und es beim nächsten Mal besser zu machen.
Liebe Jeanette, kurz und knapp, wie ich nun mal immer antworte *lächel* wollte ich damit eigentlich nur sagen, dass ich deine Gedankengänge bezüglich der Maschensymbolik sehr gut verstanden habe. *lächel*
Am 3. Mal der zu verschickenden „ganz lieben Grüßen“ beteilige ich mich doch freudig und wünsche dir einen tollen Tag heute
Heike