Eine gebrochene Persönlichkeit

Die Aufregung war riesig. Die gesamte Schule, ja, sogar die ganze Stadt, und ja, so war man sich sicher, die ganze Welt war in Aufruhr. So etwas hatte man hier noch nie erlebt: Eben sass Jonas noch ganz normal im Unterricht, eigentlich genau wie immer, so erzählten die Klassenkameraden. Und dann, ganz plötzlich, fiel er auseinander. Das heisst, eigentlich fiel er nicht einfach auseinander, nein, es war eher so, dass er vom Stuhl fiel und erst beim Aufprall auf den Boden in viele kleine Stücke zerbrach, so wie eine Porzellanfigur. Kein menschlicher Laut war dabei zu hören, lediglich ein kurzes Klirren. Nicht einmal Blut habe gespritzt, berichteten die Zeugen des Vorfalles. Niemand an der Schule konnte sich das erklären.

An der Pressekonferenz suchte der Schuldirektor nach klugen Worten, doch er fand keine. Auch der Mathelehrer nicht, der zuvor noch versucht hatte, Jonas nach allen Regeln der Logik wieder zusammenzusetzen und zu reparieren. Es gelang ihm nicht. Ebenso war der herbeigerufene Arzt mit seinem Latein am Ende, als er feststellen musste, dass von Jonas nur noch die äussere Hülle vorhanden war und alle Innereien samt Herz fehlten. Seinen verzweifelten Versuch, die einzelnen Stücke wieder zusammenzunähen, musste er bald wieder aufgeben, da er es nicht schaffte, die Nadel durch die harten Hautscherben zu stechen. Sie wussten einfach keine Formel, wie sie vorzugehen hatten, denn so einen Fall fanden sie in keinem Lehrbuch.

Zwar wurden für alle anderen Schüler Psychologen aufgeboten, genauso wie es für Notfälle vorgesehen war, und auch die herbeigeeilten Eltern und die schockierten Lehrer wurden versorgt. Der Schule konnte hier absolut kein Vorwurf gemacht werden, denn alles wurde ganz korrekt gehandhabt. Doch für Jonas wusste niemand Hilfe. Und so kam es, dass Jonas gebrochen blieb. Und mit ihm das ganze Schulsystem mit ihren Vertretern, die ohne Erklärung zurückzublieben.

Dabei gab es eine einfache Erklärung, die ganz feine Geister an der Schule vielleicht erahnten, sich jedoch nicht auszusprechen getrauten: Durch den Versuch, sich anzupassen und konform mit den Erwartungen zu gehen, die an Jonas gestellt wurden, wurde seine äussere Schale immer härter, während sein Inneres immer leerer wurde. Und so kam es, dass von Jonas am Ende nur noch eine porzellanartige Hülle übrig blieb, die schon beim ersten Widerstand von aussen einfach zerbrach.

Weil aber diese Erklärung für alle Schulvertreter, ja, sogar für alle Politiker, und ja, sogar die ganze Gesellschaft noch viel schwieriger zu ertragen war als gar keine Erklärung zu haben, beliess man es dabei, von einem unerklärlichen Einzelfall zu sprechen – in der Hoffnung, dass er bald in Vergessenheit geraten würde.

3 Comments on “Eine gebrochene Persönlichkeit”

  1. eine tolle idee, ich hab atemlos gelesen – bis auf die letzten beiden absätze. der text war so klar (und doch rätselhaft), ich glaube, ich hätte lieber selbst gegrübelt und wäre letztlich auf die idee gekommen, die du jetzt schon direkt vorgibst. aber ich bin auch ein freund offener enden – funktionieren tut letztlich beides.
    so oder so: wirklich eine witzige und sehr originelle idee!

    • Vielen Dank für deine Rückmeldung! Ich weiss, ich habe lange überlegt wegen den beiden Absätzen… Hier für den Blog probiere ich einfach gerne das eine oder andere aus, was die Gestaltung meiner Texte angeht. Und weil ich normalerweise alles ziemlich offen lasse, habe ichs mal mit der anderen Variante probiert. Aber gerade, weils ein Ausprobieren war, bin ich froh um deine Meinung! Ich als Leserin habe auch lieber, wenn man mir das Denken selbst überlasst, von dem her kann ich das sehr gut nachvollziehen 😉

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