Die schwarzen Schuhe

Da stehen sie. Einfach so, da an der Strassenecke. Die Schuhe. Da, an der Wand, angelehnt. In der Schachtel. Schwarze Pumps. In einer weissen Schachtel. Warum nur? Das fragt sie sich schon die ganze Zeit. Sie kann sie genau sehen von ihrem Fenster aus, wie sie sich abheben, so ganz schwarz im Weiss der Schachtel. Drumherum nur das Dunkel der Nacht. Kein Mensch ist da, niemand, nichts. Da stehen sie, allein, fast wie ein Mahnmal. Aber wofür? Was macht das für einen Sinn? Sie überlegt sich verschiedene Szenarien. Wäre es möglich, dass sie dort vergessen wurden? Ja, vielleicht bei einem Umzug. Vielleicht hatte es jemand eilig. Aber warum hat dieser jemand dann alles andere mitgenommen und nur diese Schuhe vergessen? Möglicherweise gab es einen Streit. Möglicherweise ja gar nicht dort auf offener Strasse während des Umzugs, sondern bereits davor. Es könnte ja sein, dass sich ein Paar im Streit getrennt hat, und sie hat diese Schuhe in der Wohnung vergessen. Dann hat sie der Verlassene vielleicht einfach dort hingestellt. Weil sie so überstürzt los ist, und weil er sie noch liebt. Weil er es nicht über das Herz bringt, die Schuhe einfach wegzuwerfen, es aber zu sehr schmerzt, sie noch in der Wohnung zu haben. In der Hoffnung, sie kommt zurück. In der Hoffnung, sie sieht die Schuhe und versteht. Die schwarzen Pumps in der weissen Schachtel als Mahnmal für die Liebe. Mit Hoffnung beladen, dort abgestellt und einfach vergessen. Ob er sie auch schon vergessen hat? Läuft er nicht jeden Tag daran vorbei? Aber das ist doch grausam, denkt sie sich. Da muss man doch etwas tun, das hält doch niemand aus. Und so geht sie hinunter, rennt über die Strasse durch den Regen direkt auf die Schuhe zu. Es ist immer noch niemand zu sehen, und so beschliesst sie einfach, die Schuhe zu nehmen. Sie nimmt sie mit, und sie nimmt sich vor, sie in Ehren zu halten. Schliesslich sind sie ein Mahnmal für die Liebe. Plötzlich überkommt sie die Traurigkeit und unter die Tropfen des Regens mischen sich ihre Tränen. Sie weint um die Hoffnung, die in diesen Schuhen stecken. Langsam geht sie wieder zurück, und noch bevor sie wieder oben angekommen ist, kontrolliert sie, ob die Schuhe ihr passen. Genau ihre Grösse, das kann doch nicht sein, sie passen wie angegossen. Da stehen sie jetzt zusammen im dunklen Treppenhaus, die schwarzen Schuhe und sie. In der Hand hält sie die weisse Schachtel, die nass ist vom Regen und ihren Tränen. Und da fühlt sie plötzlich die Hoffnung in sich aufsteigen. Die Schachtel wird wieder trocknen, die Schuhe werden wieder laufen, und zusammen sind sie nicht mehr allein. Die Schuhe werden sie von jetzt an begleiten, und wer weiss, vielleicht findet sie ja darin endlich die Liebe.

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