Die Zugfahrt

Auf dem Nachhauseweg im Zug blickte er aus dem Fenster und dachte noch einmal über das nach, was er gerade gehört hatte. Darüber, was Freiheit bedeutet. Es war ein sehr aufschlussreicher Vortrag gewesen, den er heute Abend besucht hatte. Eigentlich war er nicht einmal freiwillig hingegangen, auch wenn das Thema ihn natürlich interessierte. Aber er hatte damit gerechnet, dass es vor allem um die politische Dimension von Freiheit gehen würde. Dass er sich jetzt selbst so aufgewühlt fühlte, das hätte er nicht gedacht. Er war ganz ehrlich überrascht, denn eigentlich war er immer davon ausgegangen, dass er frei sei. Sollte das alles wirklich nicht stimmen? Ja, es erschütterte ihn zwar, dass der Redner darüber gesprochen hatte, wie unfrei die Demokratie doch eigentlich sei. Das war ihm bisher nie aufgefallen. Doch es stimmte, dachte er, wirklich frei sind wir alle nicht, bei all den Vorschriften und Regeln, die wir uns selbst auferlegen. Aber nun gut, das war nicht zu ändern. Nein, in seinen Grundfesten erschüttert hatte ihn etwas anderes. Es war die Frage nach der Freiheit von der eigenen Vergangenheit gewesen. Und er fragte sich nun, ob er wirklich so frei war, wie er immer gedacht hatte. Frei, weil er sich unabhängig fühlte, weil niemand auf ihn wartete, niemand Rechenschaft wollte für sein Tun, und er als moderner Single in der Stadt doch nun wirklich seine Freiheit genoss. Doch wenn er jetzt ehrlich war, dann wusste er, dass das nicht stimmte. Er hatte sich nie darüber Gedanken gemacht, aber er hatte einfach immer weitergemacht und sich treiben lassen. Nie wäre er auf die Idee gekommen, dass genau das ihn unfrei machte. Die Erkenntnis traf ihn wie ein Schlag. Er liess sich von seiner Vergangenheit leiten! Er leitete sich gar nicht selbst. Seine Erfahrungen machten ihn unfrei für die Entscheidungen in der Zukunft. Er hatte sich nie darum bemüht, sich von seiner Vergangenheit zu befreien, schliesslich gehörte sie doch zu ihm. Oder war das nur eine Ausrede? Eine Ausrede, damit er sich nicht dem Unangenehmen stellen musste? Er merkte, wie es ihm die Kehle zuschnürte, wie der Schmerz zurückkam, den er so lange verdrängt hatte. Weil er sich aber hier zwischen all den fremden Leuten nicht von ihm überwältigen lassen wollte, durchsuchte er die Tasche nach einem Stift und kritzelte ein paar Worte auf die Rückseite des Abendprogrammes:

Schmerz

Vergessen,

verdrängt,

vorbei.

Und trotzdem

immer

mit dabei.

Es war das erste Mal, dass er so etwas aufschrieb. Unsicher las er noch einmal durch, was er notiert hatte. Dann hielt der Zug. Er hatte gar nicht bemerkt, dass er schon da war. Schnell schnappte er sich mit der einen Hand seine Tasche, knüllte das Papier mit der anderen zusammen und warf es beim Rausgehen in den nächsten Mülleimer.

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